Sonja Ablinger

Sozialdemokratie als sozialpolitischer Gestaltungsfaktor – Ein Beitrag von Emmerich Tálos

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‘Eine EU, die die Balance zwischen wirtschaftlichen und sozialen Zielen nicht schafft, hat ihre Existenzberechtigung verloren. Für den notwendigen Kurswechsel auf Gemeinschaftsebene wird es wesentlich auch einer in ihrem Gestaltungsanspruch klar positionierten europäischen Sozialdemokratie bedürfen.’

Ich stelle hier mit Genehmigung von Emmerich Tálos seinen Vortrag (in Auszügen und zur Gänze als pdf) online, den er bei der Landesbildungskonferenz der SPÖ Tirol am 19.6. in Innsbruck gehalten hat. Seine Rede beinhaltet eine Fülle an politisch relevanten Zusammenstellungen, Daten und Verknüpfungen und ist eine lesenswerte Überarbeitung eines kürzeren Textes, den ich hier schon vor einiger Zeit eingestellt habe.

Er beschreibt in dem aktuellen Vortrag den schrittweisen Rückbau der sozialen Sicherungssystemen und den scheibchenweisen Verlust des sozialdemokratischen Gestaltungsanspruchs in Österreich. Bezeichnend dazu ist, dass die SPÖ all jene Maßnahmen, die von schwarz-blau und gegen die Stimmen der sozialdemokratischen Fraktion beschlossen wurden, nach 2006 von ihr nicht mehr angesprochen wurden, auch auf das weist Tálos hin.

Wie sich die Sozialdemokratie künftigen Herausforderungen stellen soll und wo Ansatzpunkte einer offensiven Gestaltung sein könnten, beschreibt er im letzten Teil seines Vortrags.

‘Die Sozialdemokratie war durchwegs der treibende Faktor des sozialpolitischen Ausbaues, viele der Maßnahmen waren Resultat von Kompromissen und „Tauschgeschäften“ mit dem Regierungspartner ÖVP (ASVG – Kapitalmarktgesetze, Nationalbankgesetz). Der „Siegeszug“ des Sozialstaates war Spiegelbild ihres gesellschaftspolitischen Selbstverständnisses: die Verbesserung der gesellschaftlichen, d.h. sowohl der wirtschaftlichen als auch der sozialen Bedingungen der Bevölkerung, der arbeitenden Menschen und deren Familien. Mit „Reform“ war nach sozialdemokratischen Verständnis lange Zeit die realisierte Verbesserung von Bedingungen zu Gunsten der Betroffenen verstanden worden und nicht, wie heute üblich, jegliche Änderung, ungeachtet ihrer  oft nachteiligen Folgen für die Betroffenen. Für die Ära Kreisky ist  eine Kulminierung dieses gesellschaftspolitischen Gestaltungsanspruches zu verzeichnen.

Diese Ausrichtung hat Kreisky in seiner Parteitagsrede im Jahr 1976 deutlich gemacht: Nachdem die Sozialminister Böhm, Maisel und Proksch nach 1945 ein großes Stück des Wohlfahrtsstaates weiterentwickelt haben, habe Sozialminister Häuser in den letzten Jahren den Wohlfahrtsstaat „nicht nur geräumiger gemacht, sondern sehr weitgehend seiner Vollendung entgegengeführt… Wir haben also die Gesellschaft reformiert. Unserer Reformpolitik ist an konkreten Gegebenheiten orientiert“. [...]

Im Blickpunkt der Gesellschaftspolitik stand neben der Verbesserung der Bedingungen  der Erwerbstätigen und der Familien nicht zuletzt auch ein Thema, das die folgenden Jahrzehnte als „sozialer Dauerbrenner“ bis heute begleiten sollte: die Arbeitslosigkeit. Bekannt und zugleich in der Nach-Kreisky-Entwicklung seitens bürgerlicher Parteien und Unternehmervertretungen heftig umstritten waren die zwei  folgenden Aussagen Kreiskys. Als im Gefolge der durch die Erdölpreiskrise ausgelösten wirtschaftlichen Rezession die Arbeitslosigkeit im Jahr 1975 auch in Österreich zu steigen begann, skizzierte Kreisky 1975 seine Sicht folgend: “Unter Einsatz aller zu Gebote stehenden Möglichkeiten ein hohes Beschäftigungsniveau zu halten, weil Österreich nicht reich genug ist, sich den Luxus der Massenarbeitslosigkeit leisten zu können“. Nachdem Arbeitsmarktprobleme trotz gegensteuernder Maßnahmen andauerten, konstatierte er im Wahlkampf 1979: „Ein paar Millionen Schulden mehr bereiten mir weniger schlaflose Nächte als ein paar hunderttausend Arbeitslose“.

Es geht nicht darum, in nostalgischen Erinnerungen an die 1970er Jahre zu schwelgen. Faktum ist:  die sozialdemokratische Politik in dieser Zeit lief darauf hinaus, den gesellschaftspolitischen Gestaltungsanspruch auch unter veränderten Bedingungen (Anstieg der Arbeitslosigkeit, geringeres Wirtschaftswachstum) zu realisieren. [...]

An der sozialpolitischen Entwicklung seit 1970 kann deutlich gemacht werden, dass die Sozialdemokratie auf Basis ihrer politischen Machtposition die Konturen der österreichischen Sozialpolitik wesentlich prägte, ihre wirtschafts- und sozialpolitischen Strategien der realen Entwicklung der Sozialpolitik „ihren Stempel aufdrückten“. Das sozialdemokratische Reformpotential kam auch noch zum Tragen als sich zum Teil  schon Veränderungen der ökonomischen Rahmenbedingungen abzeichneten. Auf der anderen Seite wurden bereits am Ende der Alleinregierungszeit der Sozialdemokratie Zielkonflikte offensichtlich, deren Lösung im Sinne der wirtschafts- und budgetpolitischen Prioritäten Konsequenzen für die Finanzierung der Sozialversicherung zeitigte. Die Anbindung der Entwicklung der Sozialversicherung an die wirtschafts- und budgetpolitischen Strategien der Regierung beinhaltet zugleich Ansätze einer sozialpolitischen Defensive. [...]

Die mit dem EU Beitritt erfolgte Verlagerung der Entscheidungskompetenzen in einer Reihe wichtiger Politikbereiche (Währung, Wirtschaft, Agrar-, teils Sozialpolitik) auf die Gemeinschaftsebene schränkte den Gestaltungsspielraum ein. Bedeutend vor allem auch: im Kontext veränderter wirtschaftlicher und sozialer Herausforderungen und EU Vorgaben spielte für die sozialdemokratische Orientierung zunehmend mehr die Anpassung gesellschaftspolitischer Steuerung an wirtschaftlichen Druck, vor allem seitens des Finanzkapitals, und an die EU – Prioritäten mit deren Schieflage zuungunsten sozialer Interessen eine bestimmende Rolle. Die von Schwarz-Blau realisierten weitreichenden Einschnitte in die sozialen Sicherungssysteme, die von der damaligen Oppositionspartei Sozialdemokratie heftig abgelehnt worden waren, wurden in der nachfolgenden Phase der Regierungsdominanz der Sozialdemokratie nicht mehr in Frage gestellt.

Kurz gesagt: In der Entwicklung der letzten Jahrzehnte ist das Profil der Sozialdemokratie weniger von der Option offensiver sozialreformerischer Gestaltung, als viel mehr von der Aufrechterhaltung und Verwaltung des in früheren Tagen erreichten sozialpolitischen Niveaus sowie von der Abwehr von Angriffen auf sozialpolitische Leistungen und Rechte geprägt. Diese Angriffe haben in der ÖVP-FPÖ/BZÖ Regierungszeit ihren bisherigen Höhepunkt in der Zweiten Republik erreicht.

Gab es in den Nachkriegsjahrzehnten in Fragen des Sozialstaates eine  weitgehende Übereinstimmung zwischen den beiden damals  entscheidungsrelevanten Großparteien, SPÖ und ÖVP, über die aktive  Rolle des Staates bei der Steuerung der ökonomischen und sozialen Entwicklung, so unterscheidet sich die Regierungsphase 2000 – 2006 davon wesentlich: Sie war angeleitet von einem sozialpolitischen Grundverständnis, das das schiere Gegenteil vom sozialdemokratischen sozialpolitischen Reformverständnis darstellte.

Die programmatischen Vorstellungen der ÖVP-FPÖ-Regierung, wie sie im Regierungsabkommen (siehe Das Regierungsprogramm 2000), in Budgetreden, Aussagen von Repräsentanten der Regierungskoalition formuliert sind, sind an zentrale Vorstellungen neoliberal orientierter Gesellschafts- und Sozialpolitik angelehnt. Ein Kernpunkt dabei ist die “Abschlankung” staatlicher Aufgaben und Tätigkeiten – verbunden mit “mehr Eigenverantwortung” im Bereich sozialer Versorgung.

Mit dem Plädoyer für einen schlanken Staat korreliert das Eintreten für eine substantielle Änderung des traditionellen Systems staatlich geregelter sozialer Sicherung. “Soziale Sicherung neu” hat, wie es in diesem Regierungsprogramm heißt, im Vergleich zum bisherigen Selbstverständnis einen grundsätzlich anderen Ansatzpunkt: “Wir vertreten den Standpunkt, dass es zum Wesen einer sozialen Gesellschaft gehört, denjenigen zu helfen, die unzureichend oder gar nicht zur Selbsthilfe fähig sind. Moderne Sozialpolitik steht dabei im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Verantwortung, von Leistungsbereitschaft und Solidarität. Die Neuordnung der Aufgabenteilung zwischen staatlich und privater sozialer Verantwortung gehört zu den größten Herausforderungen einer Sozialpolitik, die vor der drohenden Unfinanzierbarkeit und geringer sozialer Treffsicherheit immer teurer werdender Leistungen steht. Nur das, was erarbeitet und erwirtschaftet wird, kann auch verteilt werden. Grundsätzlich muss Vorsorge Vorrang vor Fürsorge haben” (Das Regierungsprogramm 2000, 18). Das neue ÖVP Programm vom Mai 2015 klingt ähnlich: „Grundsätzlich muss auch im Sozialwesen Vorsorge Vorrang vor Fürsorge haben … Der Einzelne trägt als Erster die Verantwortung für sein Leben – soweit seine Möglichkeiten reichen und Eigenleistung zumutbar ist“ (Grundsatzprogramm 2015).

Die Vorstellungen von Schwarz-Blau/Orange liefen zum einen auf die prioritäre Ausrichtung des Sozialstaates an individuellen Not- und Bedarfslagen, zum anderen auf die Unterordnung der Sozialversicherung unter budget-, wirtschafts- und standortpolitische Prioritäten bei gleichzeitigem Ausbau der betrieblichen und privaten Vorsorge hinaus. Beides zusammen genommen fand realpolitisch in Zugangsbeschränkungen, Niveaukürzungen und Leistungsabbau seinen Niederschlag.[...]

Die Entwicklung des österreichischen Sozialstaates ist seit den 1980er Jahren durch Veränderungen auf mehreren Ebenen gekennzeichnet. Diese blieben, wie insbesondere an den letzten Jahren ersichtlich ist, nicht auf Anpassungen an ein schwieriger gewordenes ökonomisches und soziales Umfeld und die Steuerung daraus resultierender Konsequenzen für die Sozialversicherung beschränkt. In einem zentralen Bereich des österreichischen Sozialstaates, der Pensionsversicherung, hat bereits ein substantieller Umbau stattgefunden. Der Sozialstaat befindet sich zumindest in diesem Bereich am Rückzug.[...]

Wenn die Sozialdemokratie in Zukunft  ein bestimmender sozialreformerischer Faktor sein will, muss sie sich über ihren Gestaltungsanspruch unter geänderten Herausforderungen klar werden und klare Antworten auf die bereits angesprochenen brennende Fragen und Herausforderungen geben, die für die Entwicklung unserer Gesellschaft wichtig sind: wie die Sicherung sozialer Teilhabechancen und Sicherung des sozialen Zusammenhalts im Kontext zugespitzter Probleme der Arbeitslosigkeit, Verarmung und Desintegration, die Sicherung der Finanzierung des Sozialstaates (Erweiterung der Beitragsbasis bei Unternehmen), die Balance zwischen wirtschaftlichen und sozialen Zielen auf EU Ebene und in Österreich, die internationale Solidarität (z.B. im Hinblick auf Migrations- und Flüchtlingsströme etc.). Der Gestaltungsanspruch wird sich nicht nur auf Österreich und österreichische Politik beziehen können, sondern auch auf die Gemeinschaftsebene und deren Schieflage fokussieren müssen. Eine EU, die die Balance zwischen wirtschaftlichen und sozialen Zielen nicht schafft, hat ihre Existenzberechtigung verloren. Für den notwendigen Kurswechsel auf Gemeinschaftsebene wird es wesentlich auch einer in ihrem Gestaltungsanspruch klar positionierten europäischen Sozialdemokratie bedürfen.

Ob die aktuelle Diskussion um ein Parteiprogramm als eine Chance zur Klärung des Selbstverständnisses der österreichischen Sozialdemokratie unter den geänderten Bedingungen des 21. Jahrhunderts genützt wird?

Zentrale Probleme sind nicht mit Regierungspragmatismus zu lösen. Es bedarf einer breiten und eingängigen Diskussion z.B. der Integrationsproblematik. Es geht darum, soziale Problemfelder wie den Umgang mit Flüchtlingen und deren Integration aus dem Blickwinkel des gesellschaftsreformerischen Anspruches, von Werten wie Humanität und Solidarität zu betrachten und soziale Lösungen zu finden.

Das Warum der Abgrenzung gegenüber der FPÖ gilt es offen und eingehend zu diskutieren und zu begründen- wann, wenn nicht im aktuellen Programmfindungsprozess? Ein Parteitagsbeschluss reicht nicht. Der pragmatische Weg der Machtsicherung (ohne Diskussion über das Abweichen von der bisherigen Linie) à la Burgenland wird sich vermutlich als ein Fehlweg erweisen. Denn Machtsicherung ist nicht ident mit Sicherung der Glaubwürdigkeit.

Kurz gesagt: Der springende Punkt ist nicht, ob die Sozialdemokratie eine Zukunft hat, sondern welche. Dies wird nicht allein, aber wesentlich auch von ihrem sozialreformerischen Gestaltungsanspruch und dessen Realisierung abhängen.

Der gesamt Vortrag kann hier nachgelesen werden: Sozialdemokratie als sozialpolitischer Gestaltungsfaktor_Emmerich_Tálos

 

 

 

 

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