Sonja Ablinger

Sozialdemokratie: Bestimmende Kraft der Zweiten Republik? – ein Beitrag von Emmerich Tálos

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Emmerich Tálos, Politologe, Historiker, Theologe und Bruno-Kreisky-Preisträger für das publizistische Gesamtwerk hat unlängst einen Beitrag verfasst zur Situation der Sozialdemokratie und ihrer Ausrichtung – auch vor dem Hintergrund einer (wie auch immer ausgestalteten) Programmdisksussion. Er stellt dazu die zentrale Frage: ‘Die Sozialdemokratie ist nach wie vor ein bestimmender Machtfaktor. Die Frage allerdings ist: Bestimmend wofür, in wessen Interesse und zu welchem Nutzen?’ und analysiert: ‘Von einem sozialreformerischen Gestaltungsfaktor wurde die Sozialdemokratie weitgehend zu einem Verwalter des sozialpolitischen Status quo. Die langjährige Regierungsdominanz und Regierungsbeteiligung hat zu einer Auszehrung kreativer sozialreformerischer Ideen und Energien geführt.’

Emmerich Tálos hat mir gestattet seinen Beitrag hier online zu stellen, wofür ich ihm danke, weil seine Analyse wirklich wert ist gelesen zu werden. Hier der ganze Beitrag:

‘Die Sozialdemokratie hat die politische Entwicklung und das politische System der Zweiten Republik wesentlich geprägt – sowohl als politischer Machtfaktor als auch Gestaltungsfaktor. Ich werde diese beiden Dimensionen im Folgenden kurz skizzieren.

  • Politischer Machtfaktor

Die Sozialdemokratie als Machtfaktor auf Regierungs- und parlamentarischer Ebene ist vor allem an folgendem Fakt ablesbar: mit Ausnahme von 11 Jahren, der Jahre 1966-1970 und 2000-2006, von insgesamt 70 Jahren Zweite Republik, trug die Sozialdemokratie Regierungsverantwortung, als Juniorpartner, alleinregierend oder in dominanter Position. Die Sozialdemokratie stellt damit (ebenso wie ihr langjähriger Partner und Konkurrent ÖVP) sozusagen eine verbeamtete Regierungspartei dar.

Ihr ist lange Zeit die Einbindung großer Teile der Bevölkerung als Mitglieder und WählerInnen gelungen. Die Zahl von 700.000 Mitgliedern (Stand 1970er Jahre) ist Ausdruck dafür. Nicht zuletzt stärkte den Machtfaktor Sozialdemokratie das enge Naheverhältnis zu den großen Interessenorganisationen ÖGB und AK – beides Organisationen, die für die Integrationskraft der Sozialdemokratie eine wichtige Rolle spielten.

  • Gestaltungsfaktor

Ein zweiter Punkt der Rolle als bestimmende Kraft war und ist ihr Gestaltungsanspruch und dessen Umsetzung: die gesellschaftlichen, d.h. sowohl die wirtschaftlichen als auch die sozialen Bedingungen der Bevölkerung, der arbeitenden Menschen und deren Familien zu verbessern. Mit „Reform“ war nach sozialdemokratischen Verständnis lange Zeit die realisierte Verbesserung von Bedingungen zu Gunsten der Betroffenen verstanden worden und nicht, wie heute üblich, jegliche Änderung, ungeachtet ihrer  oft nachteiligen Folgen für die Betroffenen.

Dies prägte das Selbstverständnis der Sozialdemokratie nach 1945. Für die Ära Kreisky ist eine Kulminierung dieses gesellschaftspolitischen Gestaltungsanspruches zu verzeichnen.

Diese Ausrichtung in den gesellschaftspolitischen Optionen hat Kreisky in seiner Parteitagsrede im Jahr 1976 deutlich gemacht: Nachdem die Sozialminister Böhm, Maisel und Proksch nach 1945 ein großes Stück des Wohlfahrtsstaates weiterentwickelt haben, habe Sozialminister Häuser in den letzten Jahren den Wohlfahrtsstaat „nicht nur geräumiger gemacht, sondern sehr weitgehend seiner Vollendung entgegengeführt… Wir haben also die Gesellschaft reformiert. Unserer Reformpolitik ist an konkreten Gegebenheiten orientiert“. Die Verwirklichung der sozialen Demokratie wurde als eine ständige Aufgabe betrachtet.

Die Reformpolitik der Regierung Kreisky fokussierte auf Themen und Problemlagen wie die Gleichstellung zwischen den Geschlechtern und Berufsgruppen (Arbeiter und Angestellte), auf die Reform des Familienrechtes mit der Gleichstellung der Frau in und außerhalb der Ehe, auf den Ausbau der betrieblichen Mitbestimmung und des Bildungssystems, auf die Erweiterung der Sozialversicherung auf Selbständige – insgesamt auf die Vertiefung und Verwirklichung sozialer Demokratie.

Im Blickpunkt der Gesellschaftspolitik stand neben der Verbesserung der Bedingungen  der Erwerbstätigen und der Familien nicht zuletzt auch ein Thema, das die folgenden Jahrzehnte als „sozialer Dauerbrenner“ bis heute begleiten sollte: die Arbeitslosigkeit. Bekannt und zugleich in der Nach-Kreisky-Entwicklung seitens bürgerlicher Parteien und Unternehmervertretungen heftig umstritten waren zwei Aussagen Kreiskys. Als im Gefolge der durch die Erdölpreiskrise ausgelösten wirtschaftlichen Rezession die Arbeitslosigkeit im Jahr 1975 auch in Österreich zu steigen begann, skizzierte Kreisky 1975 seine Sicht folgend: “Unter Einsatz aller zu Gebote stehenden Möglichkeiten ein hohes Beschäftigungsniveau zu halten, weil Österreich nicht reich genug ist, sich den Luxus der Massenarbeitslosigkeit leisten zu können“. Nachdem Arbeitsmarktprobleme trotz gegensteuernder Maßnahmen andauerten, konstatierte er im Wahlkampf 1979: „Ein paar Millionen Schulden mehr bereiten mir weniger schlaflose Nächte als ein paar hunderttausend Arbeitslose“.

Es geht nicht darum, in nostalgischen Erinnerungen an die 1970er Jahre zu schwelgen. Faktum ist:  die sozialdemokratische Politik in dieser Zeit lief darauf hinaus, den gesellschaftspolitischen Gestaltungsanspruch auch unter veränderten Bedingungen (Anstieg der Arbeitslosigkeit, geringeres Wirtschaftswachstum) zu realisieren.

  • Veränderungen auf beiden Dimensionen

Die nachfolgende Entwicklung ist bis heute von merkbaren Veränderungen in beiden Dimensionen gekennzeichnet. Von einer absoluten Mehrheit  oder von einem Wähleranteil von mehr als 45% ist die Sozialdemokratie heute ferner denn je. Das Wirtschaftswachstum ist äußerst bescheiden, das Arbeitslosigkeitsniveau hat   sich verdreifacht (im Jänner 2015 mit 10,6% ein Höhepunkt). Es gibt nicht nur weniger Vollzeitarbeitsplätze, sondern eine beträchtliche und wachsende Zahl an sogenannten atypisch Beschäftigten.

Wirtschaftliche Globalisierung, EU-Beitritt und Teilnahme an der EU Wirtschafts- und Währungsunion verringerten den Handlungs- und Verteilungsspielraum. Veränderungen des Parteiensystems und der Ausrichtung der Sozialdemokratie zeitigten merkbare Konsequenzen für die Bestimmungskraft der Sozialdemokratie auf beiden Dimensionen.

Die Sozialdemokratie ist – abgesehen von den Jahren 2000-2006 – nach wie vor ein bestimmender politscher Machtfaktor – allerdings ein deutlich geschwächter: Die Zahl der Mitglieder ist fast annähernd auf ein Drittel geschrumpft. Die Sozialdemokratie erreicht einen Teil ihrer Kernwähler/innenschaft, die Arbeiter/innen, nicht mehr, bei der jüngsten Wähler/innengeneration (16-29Jahre) liegt die SPÖ hinter ihren Konkurrenten ÖVP, FPÖ und Grünen. Wählte in früheren Tagen annähernd jede/r zweite Wähler/in die Sozialdemokratie, so bei der letzten Nationalratswahl  knapp mehr als jede/r vierte.

Für die Regierungspartei Sozialdemokratie wurden ab der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, verstärkt noch mit dem EU Beitritt Aspekte wie ausgabenseitige Budgetkonsolidierung,  Standortsicherung und angebotsorientierte Wirtschaftspolitik zu wichtigen Leitlinien. Die mit dem EU Beitritt erfolgte Verlagerung der Entscheidungskompetenzen in einer Reihe wichtiger Politiksteuerungsbereiche (Währung, Wirtschaft, Agrar-, teils Sozialpolitik) auf die Gemeinschaftsebene schränkte den Gestaltungsspielraum ein. Bedeutend vor allem auch: im Kontext veränderter wirtschaftlicher und sozialer Herausforderungen und EU Vorgaben hatte für die sozialdemokratische Orientierung nicht mehr die reformerische Gestaltung der Lebens- und Arbeitsbedingungen Priorität, sondern die Anpassung gesellschaftspolitischer Steuerung an wirtschaftlichen Druck, vor allem seitens des Finanzkapitals, und an die EU – Prioritäten mit deren Schieflage zuungunsten sozialer Interessen. Ein Beispiel für die Veränderung der Orientierung der sozialdemokratischen Regierungspartei ist, dass die von Schwarz-Blau realisierten weitreichenden Einschnitte in die sozialen Sicherungssysteme, die von der Oppositionspartei Sozialdemokratie heftig abgelehnt worden waren, in der nachfolgenden Regierungsdominanz nicht mehr in Frage gestellt und zurückgenommen wurden.

Kurz gesagt: Von einem sozialreformerischen Gestaltungsfaktor wurde die Sozialdemokratie weitgehend zu einem Verwalter des sozialpolitischen Status quo. Die langjährige Regierungsdominanz und Regierungsbeteiligung hat zu einer Auszehrung kreativer sozialreformerischer Ideen und Energien geführt. Anstelle aktiver Reformbemühungen trat die Verwaltung der in den Nachkriegsjahrzehnten, insbesondere in den 1970er Jahren durchgesetzten Reformen, teils die Verhinderung von noch Schlimmerem.

Die Sozialdemokratie ist nach wie vor ein bestimmender Machtfaktor. Die Frage allerdings ist. Bestimmend wofür, in wessen Interesse und zu welchem Nutzen?

Wenn die Sozialdemokratie in Zukunft wieder ein bestimmender sozialreformerischer Faktor werden will, muss sie sich über ihren Gestaltungsanspruch unter geänderten Herausforderungen klar werden und Antworten auf verschiedene brennende Fragen und Herausforderungen geben, die für die Entwicklung unserer Gesellschaft wichtig sind: wie beispielsweise die Sicherung sozialer Teilhabechancen und Sicherung des sozialen Zusammenhalts im Kontext zugespitzter Probleme der Arbeitslosigkeit, Verarmung und Desintegration, die Sicherung der Finanzierung des Sozialstaates, die Balance zwischen wirtschaftlichen und sozialen Zielen auf EU Ebene und in Österreich, die internationale Solidarität (z.B. im Hinblick auf Migrations- und Flüchtlingsströme etc.). Der Gestaltungsanspruch wird sich nicht nur auf Österreich und österreichische Politik beziehen können, sondern auch auf die Gemeinschaftsebene und deren Schieflage fokussieren müssen. Eine EU, die die Balance zwischen wirtschaftlichen und sozialen Zielen nicht schafft, hat ihre Existenzberechtigung verloren. Für den notwendigen Kurswechsel auf Gemeinschaftsebene wird es auch einer in ihrem Gestaltungsanspruch neu orientierten europäischen Sozialdemokratie bedürfen.

Ob die aktuelle Diskussion um ein Parteiprogramm als eine Chance zur Klärung des Selbstverständnisses der österreichischen Sozialdemokratie unter den geänderten Bedingungen des 21. Jahrhunderts genützt wird?

Der springende Punkt ist nicht, ob die Sozialdemokratie eine Zukunft hat, sondern welche.

 

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